Eine forsa-Umfrage* zeigt: 48 Prozent der Großeltern in Deutschland übernehmen Aufgaben im Haushalt der eigenen Kinder. Dazu gehört auch: regelmäßiges Babysitten der Enkel. Doch wenn Oma und Oma so aktiv in die Betreuung einbezogen werden, dürfen sie dann auch ihre eigenen Erziehungsregeln aufstellen? Oder sind die Anweisungen von Mama oder Papa immer oberstes Gebot? Wir haben einen Experten gefragt: Dr. med. Oliver Dierssen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er erklärt uns im Interview, was es für Kinder bedeutet, wenn sie mehrere Bezugspersonen im Alltag haben – und wie man Streitigkeiten zwischen den Generationen vorbeugen kann.
Es ist in Ordnung, wenn Großeltern Regeln anders auslegen.
Enkelkind.de: Herr Dr. Dierssen, Großeltern erlauben oft mehr als die Eltern, bringen Geschenke mit, laden ins Kino oder in den Zoo ein. Das geht natürlich nicht mehr, wenn Oma jeden zweiten Tag vorbeischaut. Verlieren die Großeltern durch regelmäßige Babysitter-Einsätze ihren besonderen „Status“, weil sie sich plötzlich auch – wie Mama und Papa – an Alltagsregeln halten müssen?
Dr. med. Dierssen: Wir hören oft, Kindern würde zu wenige Grenzen gesetzt. Das verunsichert viele Eltern, besonders wenn die Großeltern miterziehen. Häufig gibt es dann Streit darum, ob die Großeltern auch alle Regeln „mitmachen“. Dabei ist es ist total in Ordnung, wenn Großeltern die Regeln etwas anders auslegen, zum Beispiel Nutella zum Frühstück servieren. Die Kinder benötigen dann die Klarheit: „Wir sind morgens süße Frühstücker, darum darfst du das bei uns auch. Dafür gibt es bei uns vor dem Schlafengehen kein Fernsehen, sondern eine Geschichte.“
Es darf unterschiedliche Regeln geben.
Kinder brauchen die klare Botschaft: Menschen sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Vorstellungen von richtig und falsch. Deswegen darf es unterschiedliche Regeln in Eltern- und Großelternhaus geben, solange die Regeln klar und verbindlich sind. Wenn den Kindern dies liebevoll und deutlich vermittelt wird, kommen Kinder auch mit unterschiedlichen Regeln im Eltern- und im Großelternhaus gut zurecht.
Welches Konfliktpotential bringt eine zusätzliche Bezugsperson aus der eigenen Familie mit sich? Gibt es Streitigkeiten, die quasi vorprogrammiert sind?
Die Beziehungserfahrungen unserer Kindheit prägen uns oft ein Leben lang. Wir interpretieren unsere Umwelt oft mit Hilfe dieser Prägung, sehen die Welt also jeder durch die eigene Brille. Die Großeltern von heute sind meist in der Nachkriegszeit geboren.
Früher wurde mehr Wert auf Disziplin und Gehorsam gelegt.
Während des Nazi-Regimes, aber auch in den Jahrzehnten danach, war die Kindererziehung hart. Es wurde Wert auf Disziplin und Gehorsam gelegt und hart gestraft, oft ganz selbstverständlich auch durch körperliche Züchtigung. Es ist wichtig, über diese Erlebnisse zu sprechen und die dahinterstehende Weltsicht auch hinterfragen zu dürfen.
Eltern und Großeltern, die an einem Strang ziehen, wenn es um die (Enkel-)Kinder geht: Wie kann diese gemeinschaftliche Erziehung gelingen?
Konflikte ergeben sich vor allem, wenn Großeltern ihre eigene harte Erziehung offen oder verdeckt auch an den Enkelkindern ausüben möchten. Dies kann durch Gewalt in der Erziehung („Klaps auf den Po“) geschehen oder auch durch subtile Andeutungen („bei meinem Vater hätte es da was gesetzt“). Wenn Großeltern Interesse für neuere Erziehungskonzepte wie zum Beispiel die Bedürfnisorientierte Erziehung entwickeln, kann die gemeinschaftliche Erziehung gelingen.
Vielen Dank für das Interview!
Unser Interviewpartner Dr. Oliver med. Dierssen ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Er gehört zur Leitung der Praxis „Kinder- und Jugendpsychiater Gehrden“. Auf Twitter schreibt er zu den Themen Psychotherapie, Erziehung, Kindeswohl und Psychopharmakologie.
Mehr zum Thema? Lesen Sie hier unser Interview mit Familienberaterin Claudia Hillmer zur Frage „Müssen Großeltern sich an alle Regeln halten?“.
*Im Auftrag von Cosmos Direkt hat forsa Politik- und Sozialforschung GmbH eine Befragung zum Thema „Generationen-Unterstützung“ durchgeführt. Im Rahmen der Untersuchung wurden insgesamt 1.009 nach einem systematischen Zufallsverfahren ausgewählte Personen ab 50 Jahren befragt, die eigene Enkel haben.
Foto im Aufmacher: shutterstock.com/fizkes