Sturmflut 1962:
„Mitternacht war das Wasser vor der Tür.“

Fotoquelle: Nationaal Archief, CC0 / Joop van Bilsen / Anefo

Mitten in der Nacht rollen gewaltige Wassermassen die Elbe hinauf auf Hamburg zu. Die Sturmflut im Februar 1962 ist ein Nachkriegsereignis, das wie kaum ein anderes seine Spuren in der Hanstestadt und ihrer Umgebung hinterlassen hat. Die Flutwelle zerstörte die Deiche und kostete 315 Menschen das Leben. Tausende verloren ihr Hab und Gut oder ihr ganzes Zuhause. Heiner ist im Februar 1962 gerade 12 Jahre alt. Für Enkelkind.de notiert der heute 71-Jährige seine Erinnerungen an eine Nacht, die er nie vergessen wird.


Aufstehen, Jungs! Das Wasser steht vor der Tür!


Blöder Februar. Nass, kalt, stürmisch! Das macht doch keinen Spaß. Da kannst du draußen nichts machen. Hockst den ganzen Tag nach der Schule drinnen. Richtig öde. Und doch was für eine Vorfreude morgen am Sonnabend hat Hans, mein bester Freund, Geburtstag. Und wir eingeladenen Kinder wissen: Da gibt es immer etwas tolles Süßes. Also ein gewaltiger Lichtblick. Oh, ich vergaß zu sagen: Wir sind im Jahr 1962 am 16. Februar. Und Sonnabend heißt heute Samstag.

Mein Vater ist ganz normal auf Arbeit. Mein Bruder, meine große Schwester und ich sind mit unserer Mutter und Opa zuhause. Wo sonst, es ist halt stürmisch draußen. Durch den Deich direkt vor unserem Haus im Tausend-Einwohner Straßendorf zwischen Cuxhaven und Hamburg werden die Geräusche vom Sturm ein wenig abgemildert.

Aber du merkst es schon: Draußen ist was los.


Der Deich vor unserer Haustür ist die letzte Wehr.


Der Nachbar ist Zimmermann, muss wegen Schlechtwetter nicht arbeiten. Er kommt zu uns und erzählt von den Radio-Nachrichten, die eine Sturmflut für die Nacht ansagen. Eine Sturmflut! Eine Sturmflut, die das Wasser bis zu uns kommen lassen kann? Die Nordsee ist 30 Kilometer entfernt, die Elbe ist fünf Kilometer entfernt. Das ist doch richtig weit weg.

Wie oft sind wir die Strecke zur Elbe mit dem Fahrrad gefahren. Eine gute halbe Stunde bist du da gegen den Wind locker unterwegs. Das ist doch nicht möglich, dass das Elbe-Wasser heute Nacht weit über die Ufer tritt. Obendrein gibt es zwischen Elbe und unserer Häuserreihe im Dorf zwei Deiche. Ein flacherer sogenannter Sommerdeich. Der verläuft parallel zur Elbe in gut zwei Kilometer Entfernung vom Strom und schützt schon mal das Land vor dem Volllaufen mit Elbe-Wasser. Und eben unseren Deich direkt vor der Haustür, den Winterdeich. Er ist die letzte Wehr, falls Herbst- und Winterstürme zu arg toben. Aber wann gab es das schon mal?

Also mach dir mal keine Sorgen!


Papa weiß immer eine Antwort. Aber Papa ist im Einsatz. Rettet anderen Menschen das Leben.


Die Mutter ist da schon etwas vorsichtiger, schickt mich Zwölfjährigen und meinen ein Jahr jüngeren Bruder ins Bett, bleibt mit Opa aber länger als gewöhnlich wach. Unsere große Schwester kann nicht so richtig einschlafen. Papa sehen wir nach seiner Arbeit noch kurz. Er ist Maschinist bei der Freiwilligen Feuerwehr im Dorf, das bietet sich an als Elektriker. Deshalb muss er, als die Sirenen heulen, gleich wieder los. Du denkst an nichts Schlimmes, das kommt öfter vor, dass Papa los muss um beim Löschen brennender Häuser oder Bauernhöfe zu helfen oder bei Unfällen. Heute ist wohl bei dem Sturm ein Keller vollgelaufen und die Feuerwehr pumpt jetzt das Wasser ab.

Um elf Uhr nachts weckt Mama uns: „Aufstehen, Jungs! Das Wasser steht vor der Tür! Zieht euch an!“

Hä???


Jetzt ist es Mitternacht. Das Wasser ist direkt vor unserer Haustür.


Da sitzen wir Fünf jetzt angezogen aufgereiht im Flur. Keiner weiß, was er tun soll. Warten? Warten auf was? Papa weiß immer eine Antwort. Aber Papa ist im Einsatz! Rettet wohl anderen Menschen das Leben.

Jetzt ist es Mitternacht. Das Wasser ist in kurzer Zeit von der Elbe bis zum Winterdeich direkt vor unsere Haustür vorgedrungen. Es schwappt über die Deichkuppe, die zirka fünf Meter und 50 Zentimeter hoch ist. Das gibt es doch gar nicht! Die Nordsee macht ihrem Namen als „Mordsee“ alle Ehre!

Die Deichlücken zur Durchfahrt für Traktoren und Hänger zur Bestellung der riesigen Weideflächen jenseits des Deiches sind glücklicherweise rechtzeitig mit Balken und Sandsäcken verbarrikadiert. Wobei, so einfach ist das auch nicht gewesen: Die Bauern haben jahrelang dieses Material nicht benötigt und sind jetzt von der Wucht der Sturmflut überrascht. Sie müssen erst einmal wühlen, um Balken und Sandsäcke vom Dachboden im Stall heraus zu kriegen. Dann beginnt der Transport zu den Deichlücken, dann der rettende Einbau, alles spätabends. Eine genaue Sturmwarnung wie heute in allen Medien gibt es nicht.

Nur die Radiowarnung: Es ist mit einer starken Sturmflut zu rechnen.  


Das Wasser ist so nah. Doch der Deich hält.


Das Wasser hat jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Ungefähr zwölf Meter von meinem Elternhaus entfernt, Höhe um die 5,50 Meter. Nicht zu glauben! So nah! Der Deich hält. Wir leben!

Am nächsten Tag stehen wir auf dem Deich und für uns gibt es einen erschreckenden Anblick: Kühe treiben im Wasser. Kopfüber. Die Beine in die Höhe. Nicht einige. Viele!

Das Wasser ist etwas gesunken.


Bei uns im Dorf ist alles in Ordnung! Aufatmen!


Papa schläft. Er war die ganze Nacht im Einsatz. An einigen Stellen in der näheren Umgebung ist das Wasser durch den Deich gebrochen. Man spricht von toten Menschen in weniger als fünf Kilometer Entfernung. Im Nachbarort, dort wo ich zur Schule gehe, ist vom Hafen aus das Wasser mit großer Wucht ins Dorf gedrungen. Vollgelaufene Keller und unbewohnbare Häuser sind dort das Resultat dieser ungewöhnlichen Nacht.

Bei uns im Dorf ist alles in Ordnung! Aufatmen!

Nachmittags gehen mein Bruder und ich die 400 Meter zu Hans auf dem Deich entlang. Ihr wisst doch noch: Mein Freund Hans hat Geburtstag. Diesmal ein ganz anderer Geburtstag. Die Süßigkeiten und Getränke bei ihm schmecken mir, aber nur weil es 1962 etwas ganz Besonderes ist, Schaumküsse und Torte zu essen und eine Coca Cola zu trinken.

Ich werde Hans nie vergessen und seinen 13. Geburtstag sowieso nicht!


Heiner erlebte die Sturmflut in seinem Elternhaus in der Gemeinde Krummendeich im Landkreis Stade in Niedersachsen.

Mehr von Enkelkind.de Gastautor(in)
Was unterscheidet das Oma-Sein vom Mama-Sein?
Was mache ich heute als Oma anders, als ich es früher als...
Mehr lesen ...
Join the Conversation

1 Comments

Schreibe einen Kommentar
Hinterlasse eine Nachricht

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.