Kraak und Kröök
Eine Vorlesegeschichte

3
Es waren einmal zwei tunichtgute Krähen: Kraak und Kröök

Sie lesen Ihrem Enkelkind gern vor? Dann geht es Ihnen wie unserem Leser Otto aus Wiesbaden. Und bei ihm geht die Liebe zu wunderbaren Vorlesegeschichten noch weiter: Für seine Enkelin Muriel schreibt er selbst welche. Zum Beispiel darüber, wie Muriel die beiden Krähen Kraak und Kröök entdeckte. Wir wünsche viel Freude mit dem erstem Kapitel, das wir hier veröffentlichen dürfen.


Die Welt auf der sie stand, reichte ihr schon lange nicht mehr aus.


Es waren einmal zwei tunichtgutige Krähen namens Kraak und Kröök.
Nun war es durchaus nicht so, dass unsere beiden gefiederten Gesellen zwei schlechte ihrer Art gewesen wären, nein, es lag mehr in der Natur des Krähenvolks schlechthin, dass sie ein wenig kraak- und kröökelig waren. Hätte man sie befragt, hätten sie den Vorwurf der tunichtgutigen Art weit von sich gewiesen, ja, sie hätten sich gewiss als durchaus freundliche, lustige Gesellen darzustellen versucht.

Drum wollen wir es dabei bewenden lassen und sagen:
Es waren einmal zwei Krähen namens Kraak und Kröök!

Und dann war da noch das Menschenkind Muriel. Ein rechtes Träumerle, deren Welt durchs Lesen immer größer, tiefer und phantastischer geworden war. Die Welt auf der sie stand, reichte ihr schon lange nicht mehr aus. Sie träumte sich fort, immer weiter fort, doch immer wieder empfand sie die Realität als so groß und schwer, dass es ihr unmöglich erschien, so ganz und gar zu anderen Welten aufzubrechen.

Nun wollen wir versuchen Menschenkind und Krähenvolk zu einem Bild zu vereinigen.

Vor Muriels Elternhaus stand eine alte Buche. In diese hatten sich Kraak und Kröök als Untermieter eingenistet, und von hier aus beobachteten sie das Geschehen rund um Muriels Heim.
Nein, nicht nur rundum, auch hinein guckten sie, denn der größte Buchenast zeigte genau auf Muriels Zimmer. Auf ihm saßen die beiden und beobachteten das Menschenkind Muriel.

Da uns die Krähensprache fremd ist, wollen wir das Gekrächze der beiden in unsere Sprache übersetzen.

„Schau nur, schau. So schau doch.“
„Ja, ja … ich schau doch schon.“
„Schau nur wie gut sie´s hat. Schau nur.“
„Ja doch, ja!“
„Immer warm und trocken, immer eine Decke über dem Kopf. Kein nasses Gefieder, nicht.“
„Ja doch, ja!“
„Und wir? Wir herbsten auf diesem Ast herum. Von wegen federleicht. Federschwer ist mir vor lauter Nässe.“
„Ja doch, ja.“
„Mensch müsste man sein. Mensch!“
„Ja doch.“
„Ja!“

Während sich unsere beiden Krähen bedauerten, ob der Schicksalslaunenhaftigkeit der Natur, lag Muriel auf ihrem Bett und las die Geschichte vom kleinen Prinzen.
Gerade versank sie im Bild auf dem der kleine Prinz, von Vögeln gezogen, durch die Luft flog.
„Ja, das ist es“, dachte sie, „so müsste es gehen.“
Dachte es und dachte es und dachte sich fort in einen Traum. Einen Traum, in dem sie, von Vögeln gezogen, durch die Lüfte reiste.
Immer kleiner und kleiner wurde ihr Elternhaus, bis es schließlich in den Wolken versank. Plötzlich, wie aus dem Nichts, vernahm sie eine Stimme:
„Du musst die Sterne vom Himmel pflücken, sie in eine Decke einnähen und dich mit ihr zudecken. Dann, ja dann, wirst du im Schlaf zu allen Welten aufbrechen können und alles Erlebte wird in deinem Herzen bewahrt bleiben.“

Muriel hielt nach der Stimme Ausschau und sah den kleinen Prinzen, der über ihr an seinem Vogelband durch die Wolken schwebte.
„Pflücke dir die Sterne vom Himmel“, hörte sie ihn noch einmal rufen, bevor er in einer dick aufgeplusterten Wolke verschwand.
Sie überlegte nur kurz, rief: „Höher, ihr Vögel, höher!“
Höher und höher, schneller und schneller flog sie dahin. Huidiepui, flog sie am Mond vorbei, winkte den Planeten. Und kurze Zeit später schon waren die Sterne zum Greifen nahe.

„Muri, he Muri! He, du alte Schlafmütze, es ist Zeit aufzustehen. Die Schule wartet nicht auf dich.“
„Hmmm … hmmm … oh Mama! Jetzt hast du mich aus einem so wichtigen Traum gerissen. Wie soll ich denn jetzt wissen, wie er weitergeht? Oh je!“
„Stell dich vor den Spiegel und erzähle dir das Traumerlebte, damit es nicht verloren geht. Dann kannst du heute Nacht daran anknüpfen und träumst deinen Traum zu Ende.“
So erzählte sich Muriel ihren Traum, während sie vor dem Spiegel stand und ihr Haar kämmte. Was sie freilich nicht wusste, war, dass auf dem Buchenzweig ihrem Zimmer gegenüber zwei tuenichtgutige Krähen namens Kraak und Kröök saßen und durchs geöffnete Fenster ihrer Geschichte lauschten.

„Hör nur, hör. So hör doch.“
„Ja, ja … ich hör doch schon.“
„Hör nur, was der Traum ihr verschafft. Hör nur.“
„Ja doch, ja!“
„Immer warm und immer trocken. Alles was wir brauchen, ist die Decke über dem Kopf.“
„Ja doch, ja!“
„Wir brauchen nur ein paar dieser Sterne. Dann träumen wir unseren eigenen Traum. Komm, Kröök, komm. Lass uns tanzen, krächzen … wie verrückt. Wir müssen Muriels Aufmerksamkeit gewinnen.“
„Was was?“
„Nicht was was. Los schon, los! Sie muss unser Gebaren mit Haut und Federn aufbewahren, so wie wir ihren Traum in uns aufnehmen. Wenn wir es gut machen, richtig gut, bekommen wir vielleicht einen Platz in ihrem nächsten Traum. Und wenn wir dann ihren Traum träumen … wer weiß.“
„Ja doch, ja.“
„Mensch werden wir sein. Mensch!“
„Ja doch.“
„Ja!“

Mir nichts, dir nichts wurde Muriel aus ihrer Haarkämmgedankenlosigkeit gerissen. Auf dem Baum ihrem Zimmer gegenüber saßen zwei Krähen und führten – ja, es sah tatsächlich so aus, als führten sie einen Tanz auf. Und sie tanzten nicht nur, sie krächzten auch noch eine ohrenbetäubende Melodie dabei. So etwas hatte Muriel noch nie zuvor gesehen … und gehört. Vögel, die tanzen. Sie wäre diesem Bild noch ewig gefolgt, hätte ihre Mutter nicht aus der Küche gerufen, dass es nun allerhöchste Zeit sei.
Der Tag nahm seinen Lauf, doch die Vögel gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Muriel konnte die Schlafenszeit kaum abwarten. Als es endlich so weit war, legte sie sich ins Bett und blickte aus dem Fenster auf die Buche. Ihr war, als säßen dort zwei Vögel. In ihren Gedanken ließ sie den Traum der letzten Nacht an sich vorüberziehen. Sie dachte und dachte und dachte sich fort in ihren Traum …

„Vergiss nicht, Kröök. Denk dich in ihren Traum. Nimm in mit in deine Nacht hinein.“
„Ja, ja … ich denke ihren Traum.“
„Vergiss nicht, was der Traum uns schenkt. Vergiss nicht.“
„Nein doch, nein. Ich vergesse es nicht.“
„Gut … dann schlaf ein.“
„Ja doch …“

Da waren die Sterne. Sie schwebten durch den dunklen Raum und warteten nur darauf, von Muriel gepflückt zu werden. Sie nahm den erstbesten, setzte sich auf ihn und löste die Bänder, durch die sie mit den Vögeln verbunden war. „Fliegt“, rief sie, „fliegt … ich brauch nun keine Federn mehr.“
Und so pflückte sie einen Stern nach dem anderen und knotete sie mit den Bändern aneinander.

In einem anderen Traum hätte womöglich ein Mensch in dieser Nacht ein neues Sternenbild geträumt.

„He Kröök. Schau nur, schau. So schau doch.“
„Ja, ja … ich schau doch schon.“
„Schau nur wo wir sind. Schau nur. Wir sitzen auf Sternen, fliegen durchs All.“
„Ja doch, ja!“
„Ich denke, sie kann uns nicht sehen. Wir haben uns in ihren Traum geträumt, träumen aber unseren eigenen Teil. Verstehst du?“
„Nein!“
„Äh … nun gut, wie dem auch sei. Lass uns ein paar der Knoten lösen, ein paar der Sterne stibitzen.“
„Sie wird es nicht merken, sind ja so viele.“
„Ja doch, ja. Nein doch, nein.“

Der nächste Morgen brachte das gleiche Theater wie der Morgen davor.

„He Muri! Was ist nur mit dir los? Mach das du aufstehst, du Tunichtgut.“
„Ja, Mama, ja. Ich steh ja schon auf.“
„Es wird aber auch Zeit.“
„Ja doch, Mama. Ja.“

Und wie am Morgen zuvor, saß Muriel kurze Zeit später vorm Spiegel und erzählte sich ihren Traum, auf dass nichts davon verloren ginge.
Und wie am Morgen zuvor, saßen zwei Krähen Muriels Fenster gegenüber. Nur lauschten sie dieses Mal nicht ihrer Geschichte, sondern erzählten sich ihren Traum … auf dass er bliebe.

Und wie am Tag zuvor, zog sich auch dieser Tag unendlich in die Länge, nur mit dem Unterschied, dass es dieses Mal ein Menschenkind und zwei aus dem Volk der Krähen nicht abwarten konnten, von hier nach dort zu gelangen.

Als es endlich so weit war, hätte Muriel schwören können, dass auf dem Ast der Buche zwei Vögel saßen.

Und nun dachten und dachten und dachten sich ganz unterschiedliche Wesen ins ‚was war‘ und schliefen ein.

„So,“ dachte Muriel in ihrem Traum, „nun sind sie eingenäht. Jetzt ab auf die Leine, damit der nächtliche Wind alle Träume, Abenteuer, alle Welten überall, hineinwehen lassen kann.

„Komm, hilf mir einmal, Kröök!“
„Ja doch, ja.“
„Da ist noch Platz für unsere Decken, ja da!“
„Ja doch, ja!“

Am folgenden Morgen war Muriel bereits vor ihren Eltern auf. Nichts konnte schnell genug erledigt werden. Der Tag sollte Huidiepui vorübergehen, damit das Abenteuer beginnen konnte. Auf dem Ast der Buche erhoben sich zwei gefiederte Gesellen. In Windeseile verflog der Tag.

Als die Nacht kam, schaute Muriel aus Gewohnheit auf den Ast der Buche. Keine Vögel.

Wieder dachte und dachte und dachte sie sich in den Schlaf hinein, deckte sich beim letzten Gedanken mit ihrer Sternendecke zu, und das Abenteuer begann.

Kraak und Kröök lagen derweil zugedeckt in ihrem Nest und träumten ihren Traum.

„Muri, Muri …“krächzte eine Stimme, „steh auf. Es ist Zeit.“

Langsam, ganz langsam, erwachte Muriel lächelnd. Was war das für eine aufregende Nacht gewesen!
„Kraak, kraak“, krächzte die Mutter.
„Was ist denn los, Mama?“
„Ich glaube, Papa und ich haben uns erkältet.“

Wie zur Bestätigung hörte sie Papa aus der Küche kröökeln.

Kurze Zeit später saß Muriel am Spiegel, kämmte ihr Haar und dachte über das Erlebte der letzten Nacht nach. Als sie aufstand, fiel ihr Blick aus dem Fenster auf den Ast der Buche.

Dort saßen zwei Krähen. Muriel hätte schwören können, dass sie lächelten.

 


Möchten Sie wissen, wie es mit Kraak, Kröök und Muriel weitergeht? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare, ob Sie sich weitere Kapitel wünschen! Mehr über den Autor finden Sie in seinem Literaturforum unter www.ottolenk.de.

Die Bilder auf dieser Seite stammen von der Malerin Annabel. Weitere Werke von ihr finden Sie hier: www.gratis-webserver.de/Annabel

Die Enkelkind.de-Redaktion bedankt sich herzlich bei Otto und Annabel für diesen schönen Beitrag!

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1 Comments

  1. says: Stephan

    Hallo Enkelkind.de Team,
    wir würden sehr gerne erfahren wie es mit Kraak, Kröök und Muriel weitergeht und hoffen hier bald auch das weitere Kapitel lesen zu können.

    Dankeschön und viele Grüße.

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